Der hier folgende Aufsatz in Deutscher Sprache erschien im Original Englisch und in Deutscher Übersetzung im Buch Rainer Gross Twins 1997-98, im Zusammenhang mit der gleichnamigen Ausstellung. (vom 30.Oktober bis Mitte Dezember 1998 in der Galerie Benden und Klimczak, Oberstr. 2, D-41794 Viersen, Deutschland Tel. 49 2162 77059, Fax 49 2162 81385.) Das Buch hat viele sehr gute Farbabbildungen und kann über die Galerie bestellt werden.

 Rainer Gross

von Fred Camper

Seit Cézanne, in dessen Gemälden erstmals ein ständiges Nachdenken über die eigene Wahrnehmung und über ungelöste Spannungen zwischen gegenständlicher Darstellung und Abstraktion Ausdruck findet, haben Künstler immer wieder Werke geschaffen, die eher Fragen aufwerfen, als daß sie Antworten bereithalten. Von Marcel Duchamp bis Jasper Johns — immer wieder entstanden Arbeiten, die solche Widersprüche geradezu verkörpern statt Lösungen zu suchen. Die besessene Auseinandersetzung mit drei Problemen, die sich durch die Kunst des ganzen Zwanzigsten Jahrhunderts zieht — die Frage nach der Originalität, die Suche nach der idealen Form und die Eigenart der ästhetischen Erfahrung — , findet auch in der Serie „Twins" des Malers Rainer Gross statt. Diese Bilder sind beides, Original und auch wieder nicht Original; sie erinnern an die Reinheit geometrischer Abstraktionen und an ihr Gegenteil; sie haben etwas visuell Verführerisches — und zerstören zugleich das Verführerische. Ihre außergewöhnliche Stärke rührt teils von der Komplexität der Wahrnehmung her, teils von den unbeantworteten — und nicht zu beantwortenden — Überlegungen, die sie auslösen, jedoch auf höchst einzigartige Weise vielleicht vor allem daher, daß die Fragen, die sie aufwerfen letztlich als miteinander verkettete Elemente erlebt werden, so innig miteinander verbunden wie Thema und Kontrapunkt einer Fuge.

Wer die „Twins" zum erstenmal sieht, wird womöglich ein wenig verwirrt reagieren.

Jede Arbeit dieser Serie besteht aus zwei gleichgroßen, Seite an Seite hängenden und ihrer Struktur nach ähnlichen Bildern, die nur durch einen Zwischenraum von ein paar Zentimetern getrennt sind. Sie erscheinen uns irgendwie verwandt, obwohl ihre Muster nicht die gleichen sind: Dies sind keine identischen, keine „eineiigen" Zwillinge. Und doch: Linien und Farben wiederholen sich, finden ein fast unheimliches Echo im jeweils anderen — Ähnlichkeiten, die wiederum zu groß sind, daß es sich um „zweieiige" Zwillinge handeln könnte. Bei näherer Betrachtung erkennen wir: Würde man die eine Tafel um 180 Grad drehen, würde aus ihr ein ungefähres Spiegelbild der anderen. Doch auch so gesehen, erweisen sie sich nicht als exakte Spiegelungen. Ein rotes Viereck auf der einen Hälfte wird auf der anderen gänzlich fehlen; ein blaues und lavendelfarbenes Feld auf dem einen Bild wird sich auf seinem Gegenstück gänzlich blau zeigen. Die Bilder scheinen auf ihrem Grund geometrische Muster zu haben, die sich meist aus geraden Linien und Rechtecken zusammensetzen, aber irgendwie gefährdet sind: überall blättert Farbe ab; dicke Flecken einer bestimmten Farbe überlagern Flecken von einer anderen Farbe. Der Betrachter fragt sich unwillkürlich: Wie sind diese Bilder entstanden?

Gross beginnt damit, das er verschiedene Schichten mit Wasser vermischter Farbpigmente auf die Leinwand aufträgt und geometrische Farbfelder anlegt, deren mit der Hand gezogenen Ränder nicht unbedingt gerade sind. Dann trägt er auf eine andere, gleichgroße Leinwand — manchmal in einem ähnlichen Muster — Ölfarbe auf, manchmal nur eine einzige Farbe. Schließlich preßt er beide Hälften mit einem gewissen Druck zusammen. Dabei lösen sich manche Pigmentbereiche und legen sich auf die Ölfarbe, verdecken sie, während an anderen Stellen die Ölfarbe an der Pigmentseite haften bleibt und sie bedeckt. Diese verschiedenen Arten von Transfer vollziehen sich unregelmäßig. Eine pfirsichfarbene Fläche kann zum Beispiel ungleichmäßig blau gefleckt aus dem Verschmelzungsprozeß hervorgehen. Noch kompliziertere Möglichkeiten ergeben sich, wenn die eine Hälfte in mehreren Schichten angelegt ist. Rainer Gross hängt gewöhnlich die ursprüngliche Pigmenthälfte links und die ursprüngliche Ölfarbenhälfte, meist kopfüber, also umgekehrt, rechts.

Das Ergebnis dieser Drehung ist zutiefst verwirrend. Wer ein Gemälde betrachtet, ist geneigt, nach einer Art Sinn zu suchen. Welche Erkenntnis, welcher emotionale Zustand wird durch das Nebeneinander zweier verschieden getönter blauer Streifen vermittelt? Die lange Geschichte der abstrakten Kunst (und der sie begleitenden Rhetorik) hat uns gelehrt, daß jede Art von Gemütszustand oder auch ganze Bereiche von Spiritualität in eben solchen Nebeneinanderstellungen zu finden sein können, oder daß der Maler zumindest die Absicht hatte, solche Möglichkeiten anzudeuten. Tatsächlich orientiert sich der Blick an bestimmten Farbarrangements. Doch wenn man zum Beispiel die rechte Hälfte der Munteanu Twins betrachtet, findet man anstelle der beiden blauen Streifen in der linken Hälfte einen hauptsächlich weißen und einen stark blaugefleckten pfirsichfarbenen. Keiner der beiden Hälften der „Twins" ist größere Wichtigkeit beizumessen als der anderen, und wenn man die eine als einen Monoprint der anderen begreift, erkennt man auch, daß diese Arbeiten genau zwischen Original und multipler Bifurkation oder Zweiteilung liegen: Es kann immer nur zwei von ihnen geben, aber keine von beiden ist Kopie — beide sind von gleicher Bedeutung und für sich allein genommen unvollständig. Das Unwillkürliche oder Zufällige der Muster, die bei dem Kontakt zwischen den beiden Hälften entstehen, entspricht — und das ist ebenso signifikant — der jüngeren Tradition jener Künstler, die ständig die Ausdruckskraft und Bedeutung ihrer eigenen Gesten in Frage stellen: sie zweifeln an der Fähigkeit des Künstlers, in unserem bildergesättigten Zeitalter originale und expressive Zeichen zu setzen. Rainer Gross hat sich selbst ein Stück zurückgenommen; das spiegelt auch die Art und Weise wider, wie er seine Titel wählt: er entnimmt sie in einem Zufallsverfahren dem Telephonbuch, "ungefähr so", sagt er, „wie ein Naturwissenschaftler eine neue Spezies benennt". Der implizierte Hinweis auf Gegenstände der Natur ist seinem Arbeitsverfahren durchaus angemessen: Die Vorstellung vom Künstler als einem Schöpfer wesentlicher Formen, die auf ideale Weise universale Wahrheiten ausdrücken, wie etwa Malevich oder Mondrian und, wenn man so will, auch noch ein Sol LeWitt, ist bei Gross abgelöst durch den Künstler als Mittler zwischen solchen Formen und dem Zufälligen, zwischen Geometrie und Natur.

Eine der kleineren Arbeiten, Danco Twins, enthält in beiden Hälften blaue und rote Streifen; sie treffen sich in rechten Winkeln, vor einem gelben Hintergrund. Dreht man eine der Hälften vor seinem inneren Auge um, entsprechen die Farben einander weitgehend: dickes Blau trifft auf dickes Blau, und fleckiges Rot trifft auf fleckiges Rot. Nach einer Weile kann man schließlich sogar herausfinden, welche Farbe ursprünglich auf welcher Seite war und wo Farben sich von anderen abgelöst haben. Die gleichen Prozesse vollziehen sich in weit größerer Variationsbreite in den großformatigen und komplexen Cristin Twins. Beide Hälften wirken wie riesige gesprenkelte Gitter. Diese Arbeit, eine der frühesten aus der Serie, entstand in einem etwas anderen Verfahren als die späteren: Die Pigmente und die Ölfarbe wurden beide auf die linke Leinwand aufgetragen, in unterschiedlichen, sich überschneidenden Mustern, die Ölfarbschicht zuletzt. Beim anschließenden Kontaktverfahren haben sich Teile aller Farbschichten auf die rechte Leinwand übertragen, und beide Hälflen waren am Ende fast gleichartig gesprenkelt. Die vielen Details der Arbeit laden zu einer Inspektion aus größerer Nähe ein, und der Betrachter "lebt" sozusagen in verschiedenen winzigen und doch kräftigen Farbflecken, während er gleichzeitig die beiden Hälften zu vergleichen versucht, was ihm hilft, die Unterschiede zwischen ihnen wahrzunehmen. Bei allen "Twins" verlangt dieser Vergleich dem Betrachter eine aktive Beteiligung ab, nicht nur die sinnliche des Sehens, sondern auch eine "konzeptionelle" Art der Wahrnehmung, während man sich die Ursprünge vor Augen zu führen sucht.

Ein genauer Vergleich der Details schärft die Sinne für die Wahrnehmung verfallener rechteckiger Formen, zerstört oder verändert wie durch Erosion oder Oxydation. Doch tatsächlich ist, wenn überhaupt, wenig Materielles verlorengegangen; Farbe, die sich von einer Stelle der einen Leinwand abgelöst hat, erscheint auf der Oberfläche der anderen. Formen, Muster haben sich aufgelöst — und haben dabei andere teilweise überdeckt: der Prozeß der Bildentstehung ist so zugleich mit einem Verfall verbunden. Die "„Twins""", so könnte man sagen, sind üppigere Mondrian-Variationen, die Jahrhunderten der Veränderung — durch Erosion wie durch den Zuwachs neuer archäologischer Schichten — ausgesetzt gewesen sind.

Die nähere Betrachtung lohnt sich bei diesen Arbeiten: Oft trägt Gross seine reichen Farben in kontrastierenden Streifen auf, was die Sinnlichkeit jeder Farbtönung noch erhöht — man fühlt sich, auch durch das dichte Gesprenkel, ermuntert, geradezu in der Farbe zu schwelgen, und findet an den rissigen Rändern jedes abgeblätterten Farbbereichs ebensoviel Genauigkeit und Wahrheit, wie man in einem großen Gemälde von geometrischer Abstraktion fände. Doch beschreiben diese Arbeiten nicht den Fortschritt auf dem Wege des Geistes zu idealer Vollkommenheit, vielmehr vermitteln die "„Twins""' zwischen idealen Formen und etwas eher Chaotischem, das sich der Kontrolle oder Einvernahme durch das Bewußtsein entzieht. Rainer Gross sagt, daß ein Teil der erregenden Spannung bei der Arbeit an diesen Werken für ihn daraus erwächst, daß er nie ganz genau weiß, was er vorfinden wird, wenn er die beiden Leinwandhälften auseinanderzieht, wie sehr er auch auf Kontrolle des Prozesses bedacht ist. Original und Kopie, Unterschied und Ähnlichkeit, Ordnung und Chaos — aber der Betrachter sieht sich auch zwischen das Harmonische, die bewußt strukturierte Schönheit, sei es eines absolut kontrollierten Kunstwerks oder eines gepflegten Panoramafensterblicks, und jene elementare, chaotische Schönheit gestellt, wie man sie in den gewachsenen Mustern von Flechten, in einem an der Mauer verwitternden Plakat oder in den Streifen und Flecken eines alten, verblaßten Kinofilms findet.

Irgendwann wird der neugierige Betrachter herauszufinden versuchen, welcher Teil der Farbe von welcher Hälfte stammt, was bedeutet, daß er den natürlichen Wunsch hat, die ursprünglichen "idealen" Formen zu rekonstruieren. Dieser Prozess verleiht den "„Twins"" noch eine zusätzliche konzeptionelle Dimension. Der Betrachter, der diese detaillierte Analyse unternimmt,  versetzt sich gewissermaßen zurück in den Augenblick des "Druckens", den Augenblick des Kontakts und der Trennung beider Hälften — er vergegenwärtigt sich diesen Kataklysmus des Auseinanderreißens zweier wohlgeordneter Welten, die gerade dabei waren, sich chaotisch zu vermischen. Die rechte Seite von Angoma Twins zum Beispiel war gleichmäßig weiß, ehe sie mit ihrem Gegenstück in Kontakt geriet, doch das Ergebnis sind zwei einander sehr ähnliche Hälften: weiße Ölfarbe bedeckt bestimmte Pigmentbereiche auf der linken Hälfte, so wie Pigmentfarben verschiedene Bereiche der weißen Ölfarbe auf der rechten Hälfte bedecken. In diesen Arbeiten, bei denen die Pigmente in Schichten aufgetragen wurden, finden sich hier und da Stellen, wo sich mehrere Schichten verschiedenfarbener Pigmente alle auf einmal abgelöst haben, so daß auf der einen Hälfte ein dicker, kompakter Fleck zurückblieb und auf der anderen ein Stück nackter Leinwand.

In einer der reichsten Arbeiten,  Munteanu Twins, finden sich auf der rechten Hälfte weiße und pfirsichfarbene Streifen; sie entsprechen den zwei blauen Streifen, die einen größeren Teil der rechten Seite der linken Leinwand einnehmen. Ein kleines, flockenartiges Farbteilchen auf der linken Hälfte enthält beides, weiße und pfirsichfarbene Farbe, mit der teilenden Linie in der Mitte des Flecks, eine besonders eindrückliche Gegenüberstellung von Geometrie und gezackten Rändern, die auf kleinstem Raum viel von dem beinhaltet, worum es in diesen Bildern geht. Es deutet auch darauf hin, daß die weißen und pfirsichfarbenen Streifen schon ursprünglich auf der rechten Hälfte waren. Der Betrachter sieht nun, daß das Blau, das viel von der unteren Hälfte des pfirsichfarbenen Streifens bedeckt, von der linken Hälfte kam und daß an den blauen Stellen rechts, die den kräftigen pfirsichfarbenen entsprechen — Stellen, wo sich keine der Farben ganz abgelöst hat — , ein pfirsichfarbener Hauch in dem Blau zu sehen ist.

Bei dem Versuch, herauszufinden, was geschehen ist und in Gedanken die für immer verlorenen Originale wiederherzustellen, wird einem vollends deutlich, wie sehr der „Druckprozeß" beide Hälften unwiderruflich verändert hat. Die "„Twins"" zeigen uns eine rohe und elementare Qualität, die an Verfallsmuster der Natur erinnert. Ich mußte an eine eigene starke Begegnung mit der Natur denken — einen dreistündigen Weg, den ich eine Woche nach dem Erdbeben von 1989 auf dem eingebrochenen Nimitz Freeway in Oakland in Kalifornien machte. An einigen Stellen lagen noch unaufgefundene Leichen zwischen dem zermalmten Beton, aber was mich verwunderte, war, wie die sorgfältig berechneten Euklidischen Formen dieser Straßenkonstruktion, ihre vollendeten Kurven, ihre lotrechten Trägersäulen, in etwas vollständig anderes verwandelt worden waren, in Gebilde voller Biegungen, Brüche und Torsionen, in alle möglichen abgewandelten Muster — profunde Anblicke, wie man sie selbst auf einem aufgegebenen Parkplatz haben kann, der im Begriff ist, vom Unkraut wieder in Besitz genommen zu werden.


© Copyright Fred Camper 1998

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